Auch in wissenschaftlichen Texten finden sich immer wieder moralisch aufgeladene Begriffe. Sind sie ein notwendiges Stilmittel oder verzerren sie die Fakten? Die Linguistin Maria Becker über Moralisierungen in der Wissenschaftskommunikation.
Moralisierung: wie Werte Diskurse lenken
Klimagerechtigkeit, Freiheitsenergien oder Datendiktatur: Argumentieren wir zunehmend mit Werten statt mit Fakten?

Ob das Argumentieren mit Werten in den vergangenen Jahren tatsächlich zugenommen hat, kann ich nicht sagen. Davon wird oft gesprochen, wirklich repräsentative Studien gibt es dazu aber nicht. Ihre Frage spiegelt aber wider, dass viele diesen Eindruck haben. Die Frage ist aus meiner Sicht, ob es diese binäre Unterscheidung zwischen Fakten und moralischen Argumenten geben muss oder ob wir nicht vielmehr von Mischformen sprechen sollten. Moralische Argumente und Fakten schließen sich nicht aus. Ich denke, diese Dichotomie sollten wir aus unseren Köpfen streichen, denn sie bildet die Wirklichkeit nicht korrekt ab.
Sie forschen zu Moralisierungen in der Wissenschaftskommunikation. Was verstehen Sie unter „Moralisierungen“?
Unsere Definition unterscheidet sich in mancher Hinsicht vom alltagssprachlichen Verständnis. Gemeinhin wird Moralisierung als eine negative Praxis verstanden, in der Linguistik dagegen betrachten wir Moralisierungen aus einer neutralen, nicht wertenden Perspektive.
Eine Moralisierung liegt vor, wenn wir uns in einer Argumentation auf moralische Werte berufen. Das kann sehr direkt oder auch eher implizit geschehen. Wir verwenden moralische Werte wie Freiheit, um ein Argument stark zu machen. Das funktioniert deswegen so gut, weil es in unserer Gesellschaft einen Konsens über bestimmte Werte gibt. Wir alle finden Freiheit und Sicherheit gut und Krieg und Armut schlecht. Weil dieser Wertekonsens besteht, können wir solche „Hochwertwörter“ oder „Delimitationswörter“ verwenden, um unsere Argumente zu stärken oder zu schwächen.
Können Sie noch weitere Beispiele geben?
Die Aussage „Wir brauchen eine Obergrenze für Flüchtlinge, um ein sicheres Deutschland zu gewährleisten“ funktioniert so: Eine Forderung wird mit der Moralvokabel „sicher“ verknüpft und erscheint deshalb als legitim.
Schauen wir uns im Vergleich folgende Aussage an: „Frauen sollten genauso viel verdienen wie Männer, weil im Grundgesetz die Gleichberechtigung verankert ist.“ Auch hier wird eine Forderung durch die Moralvokabel „Gleichberechtigung“ stark gemacht.
Beide Argumente können wir aus verschiedenen Perspektiven kommend anders beurteilen. Sicherlich spricht einiges dafür, das erste Beispiel als manipulativ oder populistisch zu werten, das zweite hingegen nicht. Das Argumentationsmuster funktioniert auf sprachlicher Ebene jedoch fast identisch. Diese Muster zu finden und zu beschreiben, darauf liegt unser Fokus.
In der Wissenschaftskommunikation, so die Annahme, sollte vor allem mit wissenschaftlicher Evidenz argumentiert werden. Das Referieren auf moralische Werte mit der Absicht, eine Aussage als unstrittig und letztbegründet darzustellen, steht dem entgegen. In welcher Form werden in der Wissenschaftskommunikation moralische Wertungen angeführt?
Typischerweise würden wir Moralisierung in meinungsbetonten Textsorten erwarten, zum Beispiel in politischen oder religiösen Texten. Wir finden sie aber auch in Kontexten, in denen man sie nicht erwarten würde.
Da ist etwa von „digitalen Demokratien“ und „Datendiktaturen“ die Rede, oder KI-Systeme werden als „Chaosmaschinen“ beschrieben. Letztere Metapher hat die Linguistin Emily Bender verwendet, um davor zu warnen, unüberprüfte Daten zum Training von KI-Systemen zu verwenden, die direkt Einfluss auf die Welt nehmen können.Das könnte sonst zu Chaos führen – ein negativer Zustand, den es zu verhindern gilt.
Finden sich in bestimmten Medien oder Fachbereichen besonders häufig sprachliche Praktiken des Moralisierens?
In unserem Projekt vergleichen wir die Rolle von Moralisierungen in Diskursen um Künstliche Intelligenz, Energiesicherheit und Nahrungssicherung. Moralisierungen kommen in allen drei Diskursen vor und sind auch keine Seltenheit.
Bei der Untersuchung des KI-Diskurses ließ sich unsere Vermutung bestätigen, dass mit sinkendem Fachlichkeitsgrad die Dichte von Moralisierungen in Texten steigt. Sprich: Je fachlicher ein Text ist, desto weniger Moralisierungen enthält er. Aber auch sehr fachliche Texte sind interessanterweise nicht ganz frei von Moralisierungen.
Welche Wirkungen gehen von Moralisierungen aus?
Dazu planen wir eine große Studie mit Projektpartner*innen aus der Kommunikationswissenschaft. In der Studie soll es um die Rezeption und Sichtbarkeit von Texten gehen, wenn sie moralisierende Inhalte haben. Dazu führen wir zum Beispiel eine Überschriftenanalyse durch.
Eine weitere Frage, die wir untersuchen, lautet: Inwiefern können Moralisierungen dazu beitragen, dass wir unsere Meinung zu einem Thema ändern? Unsere Hypothese ist, dass wir eher unsere Meinung zu Themen ändern, wenn moralische Werte im Spiel sind, die wir selbst vertreten und für wichtig halten.
Wann ist das Heranführen von moralischen Werten in der Wissenschaftskommunikation anmaßend oder aber berechtigt?
In einem ethischen Teilprojekt erarbeiten wir diese Kriterien. Eine Moralisierung ist dann unangemessen, wenn sie nur meine persönliche Meinung wiedergibt und dabei entgegengesetzte Fakten ignoriert oder bewusst verschweigt. Moralisierung können angemessen sein, wenn sie sich auf Fakten beziehen und die moralischen Werte transparent gemacht werden.
Sie suchen Moralisierungen in großen Textmengen mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Ob eine Redepraxis moralisierend ist oder nicht, hängt sehr stark vom Kontext der Äußerung ab. Wie funktioniert die KI-gestützte Suche nach Moralisierungen?
Wir haben ein Lexikon, das Dictionary of Morality Indicating Words, aus circa 3.000 Wörtern erstellt, die potenziell auf moralisierende Kontexte verweisen. Das sind typische Moralwörter wie „Freiheit“ und „Sicherheit“ auf der positiven Seite und „Kinderarmut“ oder „Betrug“ auf der negativen Seite.
Aber das Lexikon enthält auch Wörter, die an sich gar keine moralischen Werte zum Ausdruck bringen, aber Indikatoren für Moralisierungen sein können. Mein Lieblingsbeispiel ist das Wort „Deckmantel“. Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass das Wort in fast allen Kontexten auf Moralisierungen verweist. Einer Person wird mit der Formulierung „unter dem Deckmantel von“ vorgeworfen, etwas Gutes vorzugeben, obwohl im Grunde das Gegenteil passiert. Beispielsweise wird in einem Artikel aus der FAZ zu KI-Regulierungen in der EU kritisiert, dass „unter dem Deckmantel der ‚nationalen Sicherheit‘ […] aller Einsatz von KI erlaubt“ sei.
Dann kommen unsere KI-Modelle (Large Language Models, LLMs) ins Spiel: Denen haben wir viele Beispiele von moralisierenden und neutralen Textpassagen gegeben, in denen Moralwörter vorkommen. So haben wir ein Modell trainiert, das inzwischen mit einer Zuverlässigkeit von bis zu 85 Prozent entscheiden kann, ob eine Moralisierung vorliegt oder nicht.
Was ist mit Streitfällen, in der eine solche Zuordnung schwierig ist, weil sie von der Einstellung der Rezipient*innen abhängt?
Ja, in einigen Fällen ist es für uns Menschen gar nicht so eindeutig, was als Moralisierung wahrgenommen wird oder nicht. Das erschwert das Training von solchen Sprachmodellen. Wir haben darauf geachtet, dass die Daten mehrfach und von Menschen mit verschiedenen Hintergründen klassifiziert wurden. In der Regel haben wir dann die Zuordnung genommen, die am häufigsten vergeben wurde, um auf diese Art und Weise einen Konsens herzustellen. Wir sind uns aber dessen bewusst, dass diese Ambiguitäten da sind. Was wir gesehen haben: Wir tendieren dazu, Moralisierungen eher dann als solche wahrzunehmen, wenn sie nicht unserer Meinung entsprechen.
Was erhoffen Sie sich von Ihrer Forschung?
Wir möchten zeigen, wie Moralisierungen in Diskursen funktionieren und dafür sensibilisieren, dass Moralisierungen ganz unterschiedliche Formen und Funktionen haben können. Sie treten nicht nur in populistischen oder stark meinungsbezogenen Texten auf, sondern auch in vermeintlich objektiven Wissenschaftstexten. Wir bewerten Moralisierungen in der Wissenschaftskommunikation nicht per se als schlecht. Aber uns sollte bewusst sein, dass damit starke Wirkungen verbunden sein können.