Foto: Lainey Powell, CC BY 2.0

Die nächste Evolutionsstufe der Bürgerwissenschaft

Künstliche Intelligenz verändert zahlreiche Forschungsbereiche und damit auch Citizen Science. Was bedeutet das für entsprechende Projekte in den Geisteswissenschaften und was hat es mit Wissenschaftskommunikation zu tun? Das erläutert die Historikerin Kristin Oswald im Gastbeitrag.

Der Begriff Citizen Science* umfasst heute meist digitale Ansätze, um Menschen, die nicht in der Wissenschaft arbeiten, in Forschung zu involvieren. Seit etwas mehr als zehn Jahren erfährt auch die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte eine neue Blüte. Dabei lassen sich verschiedene Intensitäten der Partizipation unterscheiden, die mit der Umverteilung der Entscheidungshoheit zwischen den Forschenden und den Freiwilligen einhergehen. Eine in der wissenschaftlichen Diskussion zu Partizipation und Citizen Science häufig genutzte Kategorisierung ist die Einteilung, die ein Forschungsteam um Rick Bonney von der Cornell University 2009 vorgeschlagen hat:

  1. Kontribution, bei der Projekte von Forschenden konzipiert werden und zu denen die Öffentlichkeit vor allem Daten beisteuert,
  2. Kooperation, bei der Projekte von Forschenden konzipiert werden und zu denen Mitglieder der Öffentlichkeit Daten und Informationen beisteuern, die zur Verfeinerung des Projektdesigns, zur Analyse von Daten oder zur Verbreitung von Erkenntnissen beitragen,
  3. Ko-Kreation oder Ko-Produktion, bei der Projekte von Forschenden und der Öffentlichkeit gemeinsam konzipiert werden und die Freiwilligen aktiv an den meisten oder allen Schritten des wissenschaftlichen Prozesses beteiligt sind.

Schaut man sich die Landschaft der digitalen Citizen-Science-Projekte in den Geisteswissenschaften an, so sind die meisten davon kontributiv und die Freiwilligen übernehmen vor allem Hilfstätigkeiten. Sie verschlagworten etwa Bilder oder Objekte (Annotation oder Tagging genannt), indem sie ihnen nichtwissenschaftliche Daten hinzufügen, beispielsweise beschreibende Begriffe zu den Inhalten eines Bildes oder Textes (blau, Engel, Brief) oder Informationen zu dessen geografischer Verortung. Oft transkribieren sie auch alte handschriftliche, digitalisierte Texte wie Briefe oder Tagebücher, die in nicht mehr genutzten Schriftformen wie Sütterlin oder Fraktur verfasst wurden, in eine heute lesbare Form. Mitunter können sie auch eigene Objekte oder Fotos zu einer bestimmten thematischen Sammlung hinzufügen.

„Über die Kontribution, eine enge Form der Beteiligung, gehen digitale Citizen-Science-Projekte in den Geisteswissenschaften nur selten hinaus.“ Kristin Oswald
Über diese „enge“ Form der Beteiligung gehen digitale Citizen-Science-Projekte in den Geisteswissenschaften nur selten hinaus. Das ist schade, denn einerseits bleibt die Frage, welchen Mehrwert die Beteiligung den Freiwilligen bringt, dabei weitgehend außen vor. Andererseits zeigen analoge Projekte, welch vielfältige Effekte intensivere oder erweiterte Formen der Einbindung wie die Kooperation oder Ko-Produktion bringen können, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Forschungsprozess selbst involviert werden. Hier seien beispielsweise die Entwicklung neuer Forschungsfragen durch die externen Perspektiven der Freiwilligen genannt, die Sensibilisierung der Teilnehmenden für wissenschaftliches Arbeiten und Methodik oder die Entwicklung neuer Ideen für die Wissenschaftskommunikation.

Künstliche Intelligenz übernimmt einen Großteil der Hilfsarbeiten

Mit den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI) ändert sich diese Ausgangslage nun radikal. Wie Forschende und Citizen-Science-Fachleute um Luigi Ceccaroni kürzlich gezeigt haben, ist KI bereits heute in der Lage, den Großteil der aktuellen digitalen Aufgaben, die Teilnehmende in Citizen-Science-Projekten ausführen, weitgehend eigenständig zu übernehmen. Die Autorinnen und Autoren identifizierten sechs Aufgabenbereiche künstlicher Intelligenz, die auch für die Geisteswissenschaften relevant sind. Dazu gehören beispielsweise

  • automatisiertes Schlussfolgern und maschinelles Lernen, also die selbstständige Übertragung von einmal „gelernten“ Anwendungsfällen auf andere Fälle, beispielsweise das Erkennen von Bildinhalten oder das Lesen von historischen Schriftstücken durch vorgegebene Beispiele;
  • daraus abgeleitete Bild- und (Hand-)Schrifterkennung sowie deren Transkription und Anreicherung mit inhaltlichen, geografischen oder formalen Informationen;
  • die Verarbeitung natürlicher Sprache, also das inhaltliche „Verstehen“ von Schriftstücken;
  • und die Wissensrepräsentation, also die Darstellung von durch KI selbst generierten Informationen (beispielsweise die Inhalte der von ihr transkribierten und inhaltlich erschlossenen Schriftstücke) oder etwa von automatisierten Big-Data-Analysen in Form von Text oder Grafiken.

Damit werden die Mehrheit der aktuellen Projekte und der bisherigen Hilfstätigkeiten der Freiwilligen hinfällig. Sie davon zu überzeugen, entsprechende Aufgaben noch zu übernehmen, wenn eine KI das auch allein kann, dürfte nicht nur schwierig, sondern auch ethisch fragwürdig sein.

„Durch künstliche Intelligenz werden die Mehrheit der aktuellen Projekte und der bisherigen Hilfstätigkeiten der Freiwilligen hinfällig.“ Kristin Oswald
Welche Folgerungen ergeben sich daraus? Ganz klar: Die digitale Citizen Science, vor allem in den Geisteswissenschaften, muss sich verändern. Auch hier zeigt das Team um Ceccaroni Wege auf. Demnach kann KI die Auswertung von Daten unterstützen und verifizieren, die nicht nur durch einfaches Tagging von digitalisierten Objekten, wie es oben beschrieben ist, zusammengetragen werden. Nicht-digitalisierte Inhalte zu sammeln bleibt demnach ein wichtiger Ansatz für Citizen-Science-Projekte in den Geisteswissenschaften. Hierzu gehören beispielsweise Privatfotos archäologischer Hinterlassenschaften, um diese zu rekonstruieren oder Veränderungen zu dokumentieren. Aber auch gesammeltes implizites Wissen kann auf diese Weise verarbeitet werden. Zudem braucht es weiterhin Ehrenamtliche, um KIs zu trainieren. Auch ist der Einsatz von KI dahingehend begrüßenswert, als viele Freiwillige von eher eintönigen, sich wiederholenden Tätigkeiten bisher schnell gelangweilt waren. Das hat eine langfristige Teilnahme oft verhindert.

Für Kreativität, Kontextualisierung und direkte Kommunikation braucht es weiterhin Menschen

Sind diese Ansätze noch recht einfach umzusetzen, wird es bei dem erweiterten, über Kontribution hinausgehenden Verständnis von Citizen Science schon schwieriger. Digitale Formate der Kooperation oder Co-Produktion gibt es in den Geisteswissenschaften bisher kaum, denn ein zu bearbeitendes Datenset reicht hierfür nicht aus. Stattdessen spielen Projektmanagement sowie Ansprache und Bindung der Freiwilligen eine deutlich größere Rolle. Hubertus Kohle, Professor für Kunstgeschichte an der Universität München und Experte für Tagging, hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass neue Formen digitaler Citizen-Science-Projekte vor allem darauf abzielen sollten, übliche Wissenskanons zu hinterfragen, neue Formen der Wissensproduktion zu entwickeln und Gemeinschaft zu stiften. Es geht hier also darum, Netzwerke zu schaffen, gemeinsam an Wissen und Forschungsfragen zu arbeiten und einen Austausch zwischen den Forschenden und den Bürgerinnen und Bürgern herzustellen – mit anderen Worten also um eine Form von Wissenschaftskommunikation. Denn Kreativität, Kontextualisierung und direkte Kommunikation gelten in der Forschung als die Aufgabenbereiche, die eine KI in absehbarer Zukunft nicht übernehmen können wird. Sie kann diese aber durchaus technisch unterstützen. Zum Beispiel kann eine von der KI durchgeführte Transkription von historischen Texten die Grundlage sein, um diese wissenschaftlich einzuordnen. Die automatisierte Verschlagwortung kann dazu beitragen, Forschende und Interessierte auf Gemeinsamkeiten zwischen Objekten aufmerksam zu machen, die sie vorher nicht gesehen haben. Und KI kann etwa durch die Untersuchung von digitaler öffentlicher Kommunikation dazu beitragen, Forschende und Freiwillige mit gemeinsamen Interessen zusammenzubringen.

„Wenn sich die Formen der Zusammenarbeit vertiefen, wird langfristiges Engagement zu einer Grundvoraussetzung. Und dafür müssen Anreize geschaffen werden.“ Kristin Oswald
Eine weitere und ebenso entscheidende Veränderung, die KI den Citizen-Science-Projekten bringen wird, ist ein stärkerer Fokus auf den Mehrwert für die Freiwilligen. Bisher war situative Teilnahme nur insoweit ein Problem, als die Projektverantwortlichen immer wieder neue Freiwillige suchen mussten. Wenn sich aber die Formen der Zusammenarbeit vertiefen, wird langfristiges Engagement zu einer Grundvoraussetzung. Und dafür müssen Anreize geschaffen werden. Wie Studien zeigen, sind Teilnehmende bei Citizen-Science-Projekten bisher vor allem Mitglieder einer gut situierten Bildungselite und bringen eine intrinsisches Motivation für die Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften mit. Um andere Gruppen ebenfalls anzusprechen, werden aber auch extrinsische Anreize benötigt. Das können beispielsweise Weiterbildungen im Rahmen der Teilnahme sein, bei denen mittels der Beschäftigung mit Wissenschaft Recherche- oder Präsentationsfähigkeiten vermittelt werden. Und da darüber wissenschaftliches Wissen vermittelt werden kann und die Freiwilligen dann zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden, muss Wissenschaftskommunikation ein fester Teil von Citizen Science im Zeitalter der künstlichen Intelligenz werden.

 

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.

* Eigentlich „Citizen-Science“, derzeit ist aber die Auseinanderschreibung des Begriffs etabliert.