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Partizipative Forschung mit Potenzialen für Wissenschaft und Gesellschaft

Was ist Citizen Social Science? Wie sieht sie in der Praxis aus? Und welche neuen Perspektiven eröffnet uns der Blick auf bisher unsichtbare Beteiligte? Über verschiedene Ansätze, deren Beziehungen und Herausforderungen der Citizen Science in den Geistes- und Sozialwissenschaften schreibt Claudia Göbel vom Institut für Hochschulforschung (HoF). 

„Lebensgeschichtliche Erzählungen von Menschen mit Migrationsgeschichte in Ostdeutschland sind weder Teil einer bundesdeutschen, noch einer lokalen Erinnerungskultur. […] Welche Erfahrungen haben Sie mit Migration in der DDR bzw. in Ostdeutschland gemacht? Machen Sie mit!“

Mit diesem Aufruf lädt das Projekt MigOst auf der deutschen Plattform für Citizen Science Bürger schaffen Wissen zum partizipativen Forschen ein. Ähnlich wirbt das Projekt GINGER um Teilnehmende für die Analyse des Themas gesellschaftlicher Zusammenhalt. Solche Forschungsaktivitäten im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften, die in Zusammenarbeit zwischen professionellen Wissenschaftler*innen und Co-Forschenden entsteht, nenne ich Citizen Social Science. Die Bezeichnung Co-Forschende bezeichnet Personen, die nicht beruflich in dem wissenschaftlichen Bereich tätig sind, in dem gemeinsam geforscht wird. Physiker*innen können also auch in einem sozialwissenschaftlichen Bereich als Co-Forschende beteiligt sein. In den meisten Fällen werden unter diesem Begriff jedoch Teilnehmende gefasst, die nicht in der Wissenschaft arbeiten. Sie bringen sich entweder aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit und der in dem Zusammenhang oft aufgebauten Expertise oder einfach aus Interesse in partizipative Forschungsaktivitäten ein.

„Im Feld der Citizen Social Science sind die Begriffe gerade im Entstehen, haben überlappende Grenzen und sind teilweise umstritten.“ Claudia Göbel
Im Feld der Citizen Social Science sind die Begriffe gerade im Entstehen, haben überlappende Grenzen und sind teilweise umstritten – schließlich geht es hier nicht einfach um Definitionen, sondern um die Neuverhandlung von Professionsgrenzen. So weisen manche Vertreter*innen von partizipativen Forschungsansätzen die Bezeichnung Citizen (Social) Science für ihre Arbeit als unpassend oder vereinnahmend zurück: Beispielsweise, weil es im eigenen Feld andere ethische Standards für Partizipation gibt oder die Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Institutionen identitätsbildend ist.1  Andere definieren Citizen Social Science nicht über die Zugehörigkeit zu sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sondern verstehen darunter jegliche Art partizipativer Forschung (also auch in den Naturwissenschaften), die stark auf die Bedürfnisse zivilgesellschaftlicher Gruppen ausgerichtet ist und maßgeblich von diesen mitgestaltet wird (z.B. im EU-Projekt CoAct). Schließlich wird Crowdsourcing oder Partizipation in den Geisteswissenschaften auch separat unter „Citizen Humanities“ gefasst.

In einer Studie zu Citizen Social Science in Deutschland2, an der ich beteiligt war, haben wir die oben genannte breite Definition verwendet, um explorativ und möglichst offen einen Überblick über die Landschaft verschiedener Ansätze zu gewinnen. Die im folgenden dargestellten Daten stammen aus dieser Studie. Projekte wie die beiden eingangs dargestellten stellen dabei „Pioniere“ neuerer Formen der Citizen Social Science dar, die sich explizit so bezeichnen. Daneben finden sich viele weitere Traditionslinien, für die hier zwei prominente kurz aufgeführt werden sollen. In beiden ist der Begriff Citizen Social Science nicht durchgehend gebräuchlich. Auf der einen Seite ist in den Sozialwissenschaften die Tradition der partizipativen Aktionsforschung (Participatory Action Research, PAR) international gut etabliert. Sie zielt darauf, soziale Realität durch Forschung zu erkennen und Forschungsergebnisse außerdem für sozialen Wandel und Empowerment einzusetzen.3 Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, Forschung zu sozialer Arbeit und zu sozial-ökologischen Fragestellungen sind beispielsweise Anwendungsgebiete von PAR.

„Die Landschaft der Citizen Social Science in Deutschland ist also von großer Heterogenität geprägt.“ Claudia Göbel
Auf der anderen Seite praktizieren die Geisteswissenschaften eine Vielzahl amateurwissenschaftlicher Formate, teils seit 100 Jahren: Amateur-Archäologie, Denkmalpflege, lokale Vereine im Bereich Kulturerbe sowie Freunde und Förderer von Museen und Bibliotheken, historisches Reenactment und experimentelle Geschichtswissenschaften sowie öffentliche Geschichts-Werkstätten.4 Neben diesen aktuellen Entwicklungen und Traditionslinien der Citizen Social Science zeigen sich auch Überlappungen mit transdisziplinärer Forschung, Bildungsprojekten oder auch Open Science.

Die Landschaft der Citizen Social Science in Deutschland ist also von großer Heterogenität geprägt. Dies äußert sich in den Vorstellungen davon, was (gute) Partizipation und (gute) Wissenschaft ausmacht. Hierbei spiegelt sich die epistemische und methodische Pluralität der Sozial- und Geisteswissenschaften insgesamt wieder. Vielfalt zeigt sich auch in der Gestalt der Aktivitäten. Citizen-Social-Science-Projekte in Deutschland werden zu gleichen Teilen innerhalb wissenschaftlicher Einrichtungen und außerhalb, beispielsweise von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Kommunalverwaltungen, initiiert. Meist nehmen sie die Form von Projektverbünden an, die Beteiligte aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (z.B. Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Bildungsbereich, öffentlicher Sektor) zusammenbringen. Die Spannbreite reicht von Projekten mit zwei bis mehreren Tausend Teilnehmenden. Diese sind am häufigsten in die Sammlung von Forschungsdaten involviert, darüber hinaus aber auch an anderen Schritten im Forschungsprozess beteiligt, wie der Entwicklung von Fragestellung und Methoden, der Datenauswertung oder der Veröffentlichung der Ergebnisse. 

„Neben der staatlichen Förderung beruhen die Projekte zu einem nicht zu vernachlässigenden Maß auf der freiwilligen und unbezahlten Arbeit aller Beteiligten.“ Claudia Göbel
Die Aktivitäten sind hauptsächlich öffentlich finanziert, z.B. über Forschungsförderung, Wissenschaftskommunikation oder Regionalentwicklung. Wobei die Finanzierung Projekt-basiert ist und so die Dauer der Citizen-Social-Science-Aktivitäten eingeschränkt wird (meist auf zwei bis fünf Jahre). Zeitlich unbegrenzte Aktivitäten finden sich, wenn überhaupt, in zivilgesellschaftlichen Bereichen, die über Vereine Beteiligung und Finanzierung organisieren. Neben der staatlichen Förderung beruhen die Projekte zu einem nicht zu vernachlässigenden Maß auf der freiwilligen und unbezahlten Arbeit aller Beteiligten.

Wieso werden Projekte in den Sozial- und Geisteswissenschaften innerhalb der Citizen Science – trotz der vielen Aktivität in diesem Bereich – als (noch) nicht so präsent wahrgenommen? Die Vielzahl von Ansätzen der Citizen Social Science sowie die Uneinheitlichkeit und Ambivalenz in der Selbstzuordnung zum neuen Label Citizen Science tragen sicherlich einen Teil dazu bei. Außerdem ist es eine Frage, wohin man schaut: In internationalen Debatten wird die Entwicklung von Citizen Social Science als neuer Ansatz seit einiger Zeit vorangetrieben. Unter verschiedenen partizipativ arbeitenden Fachcommunities in Deutschland wird die Eignung dieses Konzepts gerade erprobt. 

Nicht zuletzt spielen auch Entwicklungen in der Forschungsförderung eine Rolle. So war das neu entstehende Feld der Citizen Science zumindest in den ersten Jahren stark von Projekten im Biodiversitäts-Bereich geprägt.5 In den letzten Jahren rückte insbesondere die Förderung von Projekten in den Sozial- und Geisteswissenschaften auf die Agenda der Fördergeber. 

„Wenn man an partizipativer Forschung und deren Potenzialen für Wissenschaft und Gesellschaft interessiert ist, kommt man an den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht vorbei.“ Claudia Göbel
So entstehen Projekte, die Ansätze aus diesen Disziplinen mit Herangehensweisen aus anderen Feldern der Citizen Science verbinden. Ein Beispiel ist das EU-Projekt YouCount, das in elf Ländern sozialwissenschaftliche Forschung mit Jugendlichen zu sozialer Inklusion und politischer Beteiligung Jugendlicher macht. Dazu werden Formen qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung, u.a. PAR, mit quantitativen Verfahren und Datensammlung über Apps kombiniert. 

Das letzte Beispiel macht deutlich: Wenn man an partizipativer Forschung und deren Potenzialen für Wissenschaft und Gesellschaft interessiert ist, kommt man an den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht vorbei. Mit der Erforschung des gesellschaftlichen Miteinanders sowie dessen geistiger und kultureller Grundlagen leisten sie zentrale Beiträge zum Verstehen der Zusammenhänge, die unser Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägen. Auch mit Blick auf Handlungsoptionen wird man hier fündig. 

Zu Themen des sozialen Zusammenlebens und der Fürsorge sei hier beispielhaft auf die partizipative Forschungsarbeit vom Team um Stefan Thomas an der FH Potsdam zu Behindertenhilfe, Mehrgenerationenwohnen und Arbeit mit Geflüchteten verwiesen. Auch zu Nachhaltigkeit werden verschiedenste Fragestellung von Citizen-Social-Science-Projekten bearbeitet, beispielsweise nachhaltiger Konsum, der im Projekt Repara/kul/tur erforscht wurde.

Soweit zu den Potenzialen, wie sieht es mit Herausforderungen aus? Was die wissenschaftliche Seite angeht, sind Sozial- und Geisteswissenschaften anders zu ihren Gegenständen positioniert als Naturwissenschaften. Für ihre Forschung beobachten sie soziale und kulturelle Phänomene, die von Menschen gemacht sind. Dazu wurde eine Vielzahl von Methoden entwickelt, um wissenschaftliche Qualität sicherzustellen. Diesen kommt also auch für die Citizen Social Science große Bedeutung zu. Besonders in der qualitativen interpretativen Sozialforschung oder stark Theorie-orientierten Geisteswissenschaften lässt sich die wissenschaftliche Arbeit nicht so stark standardisieren wie in quantitativ-operierenden Bereichen. Hier braucht partizipatives Forschen viel Zeit und Aufwand, z.B. zum Erstellen von Materialien für die Zusammenarbeit.6 

Abgesehen von diesen Anforderungen auf der epistemischen Seite der Zusammenarbeit, bestehen natürlich die gleichen Herausforderungen, die generell für die Realisierung von Citizen-Science-Projekten zutreffen: Co-Forschende und Berufswissenschaftler*innen müssen sich finden, eine gemeinsame Arbeitsweise entwickeln, Finanzierung für ihr Vorhaben bekommen und, und, und. Mittlerweile existieren verschiedene Materialien, die zu solchen Fragen eine gute Zusammenfassung bieten.7 

Ich möchte an dieser Stelle einen Punkt stark machen, der mir in den Interviews mit Teilnehmenden und Koordinator*innen aus verschiedenen Citizen-Social-Science-Aktivitäten begegnet ist: In der Praxis sind neben Berufswissenschaftler*innen und Co-Forschenden (hier eng als Laienforschende verstanden) noch andere Akteur*innen beteiligt. In den von uns untersuchten Projekten waren das unter anderem: Lehrer*innen (vermitteln Forschung durchs Tun) und Mitarbeiter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen (entwickeln Forschungsdesigns, rekrutieren Co-Forschende, beraten mit Fachexpertise), Verwaltungen (bringen Praxisprobleme und Umsetzungsmöglichkeiten ein) oder koordinierenden Organisationen wie Stadtteilbüros (verbinden Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen). Die Grafik zeigt eine Auswahl dieser bisher meist „unsichtbaren“ Akteur*innen, die mit ihren Beiträgen zentral für das Gelingen der Projekte sind, aber bisher kaum bedacht werden. 

 

Grafik: Tim Kiessling, Claudia Göbel und Susann Hippler

Dabei wird deutlich, wie diese unsichtbaren Akteure gerade für die Bearbeitung großer gesellschaftlicher Herausforderungen eine wichtige Rolle einnehmen, indem sie Verbindung zu Anwendungskontexten von Wissenschaft und Innovationen herstellen, gegenstandsbezogene Expertise beitragen und Wissenschaftsbildungsaufgaben übernehmen. Um die Leistungen dieser unsichtbaren Akteur*innen in den Blick zu bekommen und zu fördern, braucht es ein breiteres Verständnis von Citizen-(Social-)Science-Aktivitäten: Nicht nur als Interaktionen zwischen Berufs- und Co-Forscher:innen, sondern als Kooperationen von Personen und Einrichtungen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. 

Auf diese Weise rücken weitere Fragen der Umsetzung und Erforschung von Citizen-Social-Science in den Vordergrund: Wie können Förderformate gestaltet werden, die auch die vielfältigen Beiträge der bisher unsichtbaren Akteur*innen besser einbeziehen und für diese zugänglich sind? Und welche neuen Perspektiven können uns diese auf Wissenschaft, Partizipation und Zukunftsherausforderungen eröffnen?